Klaus Neumann-Braun, Birgit Richard & Axel Schmidt
Gothics - die magische Verzauberung des Alltags
Menschliche Gesellschaften (re-)produzieren fortwährend Sinn, indem alltägliche Gegenstände und Handlungen in ein komplexes Netz aus funktionalen und semiotischen Bezügen eingestellt werden. Bemerkenswert scheinen homonymische Relationen: Warum gilt ,Hände waschen' einmal als instrumentelle Handlung im Dienste der Hygiene und ein anderes Mal als ritueller Vollzug zum Zwecke der Katharsis? Wie ist es möglich und welchen Sinn hat es, dass Gegenstände wie Brot und Wein, den Körper und das Blut Jesu symbolisieren? Was hat es damit auf sich, dass geometrische Figuren (wie das Kreuz) das Numinose verkörpern? Ohne Genese und Semantik solcher Relationen en detail klären zu können, verweist ihr Vorhandensein zumindest auf eine hierarchische Struktur innerhalb sinnstrukturierter Welten: Neben instrumentellen und kommunikativen Gegenständen und Handlungen, die ihrer selbst willen vollzogen werden (etwa Holz hacken) oder zum Zwecke der Intersubjektivierung von Alltag (Kommunikation), vermögen magische und rituelle Gegenstände und Praktiken das Hier und Jetzt des Alltags zu transzendieren. Ihr Potenzial Alltäglichkeit in Außeralltäglichkeit zu überführen, soll im folgenden den Ansatzpunkt darstellen.
MAGIE & RELIGION
Seit je her streben Menschen danach, ihrem profanen Dasein einen höheren symbolischen Sinn zu verleihen und ihr Streben und Wollen auf moralische und überindividuelle Letztbegründungen zu stützen. Dies erfordert mehr oder weniger kollektive Muster der Welterklärung und -deutung, die grundsätzlich auf anti-rationalistische Vorstellungen rekurrieren. Solche universellen und zeitlosen Wertanschauungen stellen traditionellerweise religiöse und magische Systeme zur Verfügung. Nach Durkheim (1981) geht mit der Entstehung von Religion die grundsätzliche Unterscheidung von sakralen und profanen Dingen einher. Diese Differenz ist in der absoluten Andersartigkeit dieser beiden Welten begründet, welche für Durkheim vor allem in den Ge- und Verbotsregeln gegenüber dem Heiligen seinen Ausdruck findet (vgl. 1981, S. 67). Im Unterschied zur Magie ist Religion auf die Elemente der ,kollektiven Moral' und der ,kirchlichen Gemeinschaft' angewiesen: "Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören" (ebd., S. 75). Ausgehend davon, besteht Durkheims Kernthese in der Auffassung, dass Göttlichkeit als "symbolisch gedachte Gesellschaft" (1976, S. 105) zu begreifen ist, die eine komplexere moralische Wirklichkeit besitzt als die einzelnen Individuen.
Marcel Mauss (1989) weitet die Differenz zwischen Magie und Religion aus, indem er darauf verweist, dass der magische Ritus - im Gegensatz zum religiösen - nicht nur nicht auf Pflichterfüllung und Unterwerfung gegenüber einer verehrten Gottheit angelegt ist (Opfermotiv), sondern als Versuch der zweckhaften Beeinflussung (Behexungsmotiv) auch immer ,gegenkulturelle' Züge trägt. So setzt Mauss die Magie in Opposition zur Religion: "Diese verschiedenen Zeichen (die Verborgenheit und Abgeschottetheit der Magie; Anm. d. Verf.) drücken in Wirklichkeit nur die Irreligiosität des magischen Ritus aus, er ist anti-religiös und man will, dass er es ist. (...) Notwendigkeit, aber nicht moralische Verpflichtung macht sich geltend, wenn auf den Medizinmann, den Besitzer des Fetisches oder des Geistes, den Heilpraktiker oder den Magier zurückgegriffen wird" (Mauss 1989, S. 57).
In der (post-)modernen Kultur spielt diese der Magie traditionell zugewiesene verbotene ,Nischenrolle' eine ebenso große Bedeutung wie der Umstand ihrer Unabhängigkeit von moralisch verpflichtenden Deutungssystemen. Die damit einhergehende Möglichkeit individueller und fakultativer (im Gegensatz zu obligatorischer) Ausgestaltung und ,Anwendung' verweist auf das der Magie inhärente Potenzial, Individuen (spirituelle) Wirkmächtigkeit zu verleihen. Während magische Systeme erweiterbar, offen für neue Einflüsse und individuell flexibel ,verwendbar' sind, stellen religiöse Systeme absolute Ansprüche: Sie standen immer schon und stehen auch heute noch mit allen anderen Formen transzendenter Erklärungssysteme in Konkurrenz um die herrschende, ,richtige' Weltdeutung. Die Machtverhältnisse waren dabei klar abgesteckt: Historisch verdrängten bzw. unterdrückten institutionalisierte und kollektiv verpflichtende Deutungssysteme magische Praktiken und Erklärungsmuster (was sich in Begriffen wie ,Hexerei', ,Ketzerei', ,Heidentum', ,Häresie', ,Blasphemie' etc. manifestierte). Im Zuge der Kanonisierung, Kodifizierung und Institutionalisierung religiösen Sinns entstand ein professionalisiertes Personal (Priester, Pfarrer) für Glaubens- und Weltdeutungsfragen. Der Gläubige wurde zum Laien und war auf den vermittelnden Experten angewiesen, um Zugang zur herrschenden religiösen Wahrheit zu erhalten.
ENT-ZAUBERUNG & WIEDER-VERZAUBERUNG
Dass sich die Verteidigung und Aufrechterhaltung eines solchen (Welt-)Deutungsmonopols historisch alles andere als unproblematisch gestaltete, spätestens seit der Epoche der Aufklärung ins Wanken geriet und schließlich im Zuge der Moderne vollends zusammenbrach, ist als Säkularisierungsprozess hinlänglich beschrieben worden. Beides - die Konkurrenz durch weltlich-diesseitige Deutungssysteme (etwa: politische und philosophische Ideologien, wissenschaftliche Welterklärungen etc.), die nun gleichberechtigt mit religiösen Systemen um die Vorherrschaft auf dem Markt der Sinngebote wetteiferten und die Individuen, die nun eine Wahl zwischen alternativen Deutungssystemen hatten - nährte einen Prozess zunehmender Rationalisierung und Entzauberung, der auch vor der (christlichen) Religion nicht Halt machte. Angesichts der Durchsetzung und Vorherrschaft rationaler, auf die diesseitige Lebensführung zielenden Elemente in der christlichen Religion selbst, diagnostizierte Weber insgesamt eine Verdiesseitigung und Individualisierung der Religion (v.a. im Protestantismus) im Zuge eines weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses (im Okzident), der innerreligiös zu einem Abbau der Magie und einer Entzauberung religiöser Heilssuche führt (vgl. Weber 1991).
Weltgeschichtliche und innerreligiöse Entzauberung führen dazu, dass sich Formen diffuser Religiosität bzw. unsichtbarer Religion (Luckmann 1991) verbreiten. Und nicht nur das: Im Zuge eines solchen weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses, dessen ,Kollateralschäden' unter Stichworten wie ,Entzauberung der Welt' (Weber 1991), ,Kolonialisierung der Lebenswelt' (Habermas 1981) oder ,Dialektik der Aufklärung' (Adorno/ Horkheimer 1985) ihren modernisierungskritischen Ausdruck finden, entsteht das Bedürfnis nach ,Wiederverzauberung' oder Resakralisierung (post-)modernen Lebens. Damit zusammenhängende Sehnsüchte und Suchbewegungen nach (Ur-)Gemeinschaften(,Retribalisierung'), nach kollektiver Sicherheit und universellen Werten sind ihrer Tendenz nach ,rückwärtsgewandt', also ,entmodernisierend' bzw. gegenmodern. Sie spiegeln symptomatisch das Dilemma wider, das allen Versuchen anhaftet, in modernisierten, sich auf die Individualität des Einzelnen stützenden Lebenszusammenhängen, ,vormoderne' Ordnungsformen wiederherzustellen. Soll heißen: Der historische Prozess ist irreversibel, und alle gegenmodernen Lebens- bzw. Vergemeinschaftungsformen müssen einen enorm hohen Aufwand betreiben, um sich als abgegrenzte Einheit in einer (post-)modernen Umwelt behaupten zu können. Das heißt auch: Alle prinzipiell rückwärtsgerichteten Suchbewegungen erfordern notwendigerweise reflexive Wahl- und Entscheidungsprozesse und bedürfen deshalb eines aktiven Wieder-Herstellungsprozesses durch den Einzelnen, da der ,natürliche Urzustand' unwiederbringlich verloren ist bzw. sowieso bloß als Mythos existiert. Als paradoxe Grundfigur (post-)moderner Suchbewegungen lässt sich ein doppelter Widerspruch festhalten: Die zunehmende Inkongruenz von gruppen- und/oder individuumsspezifischen Deutungsmustern und Lebensstilen mit gesamtgesellschaftlichen Anforderungen und Funktionszuschreibungen einerseits sowie das Zurückgeworfen-Sein des Einzelnen auf sich selbst innerhalb seiner Suche nach umfassenderen, die moderne Gesellschaft transzendierenden Weltdeutungen und Sinnhorizonten andererseits. Beide Suchbewegungen - Wiedervergemeinschaftung und -verzauberung - können also als Reaktionen auf die Auflösung religiös fundierter Großkollektive begriffen werden, was es mit sich bringt, dass Restituierungsprozesse nicht gesamtgesellschaftlich erfolgen (können), sondern sich gruppenspezifisch ereignen. Der dadurch in Gang gesetzte Wertepluralismus (kulturpessimistisch: Sinnkrise) produziert vielfältige, i.w.S. auf Religion rekurrierende Bewältigungsformen.
SCHAFFUNG MAGISCHER SPIELRÄUME DURCH (KÖRPER-)ÄSTHETIK UND STIL
Das Phänomen ,Gothic' kann als eine Spielart (post.)-moderner Bemühungen um Wieder-Verzauberung und -vergemeinschaftung angesehen werden. Dies manifestiert sich im subkulturellen Stil der Szene. Subkulturelle Stile können verstanden werden als eine intensive (die Zeichen sind auffällig und u.U. irreversibel, etwa Tattoos) und extensive (sie umfasst nahezu das gesamte Alltagsleben) sowie absichtvoll gegenkulturelle Ausdrucksform. Stil konstituiert hier eine Kultur, eine eigene Welt und ist damit mehr als Mode; insofern lässt sich behaupten, dass die subkulturelle Ästhetisierung und Stilisierung des Körpers Hand in Hand geht mit einem Lebensgefühl, das dadurch seinen Ausdruck findet, gewissermaßen im Stil verobjektiviert wird. Obwohl dem Gothic-Stil daher die Funktion zukommt, auf eine bestimmte Innerlichkeit und Dispositivität zu verweisen, entpuppt sich dieses vermeintlich Bestimmte jedoch als ein diffuser Spielraum: Oft spielt es keine Rolle, welche konkrete Einstellung die einzelnen Szenemitglieder zu einem Thema haben, ob sie an etwas Bestimmtes glauben oder nicht, in welchem Ausmaß sie ihr Leben und ihren Alltag danach ausrichten, sondern vielmehr, dass sie sich überhaupt damit befassen und eine möglichst originelle, abseitige und individuelle Sicht und ,authentisch' daran geknüpfte Ausdrucksformen entwickeln.
Die häufig erwähnte, werthaltige Kategorie des Inhalts scheint synonymisch für ,Religion' bzw. für alle kulturellen Hervorbringungen zu stehen, die sich auf mittlere und v.a. ,große Transzendenzen' beziehen lassen (u.a. etwa Psychologie (Intersubjektivität), Psychoanalyse (Träume, Unterbewusstes), Esoterik (Übersinnliches, Metaphysisches etc.). Da Religion die kulturell überlieferte prototypische Form der Prozessierung transzendenter Fragen darstellt, steht sie zunächst in ihrer rein formalen Funktion, nämlich Angebote für die Vermittlung von Transzendenz und Immanenz zur Verfügung zu stellen, in der Szene im Vordergrund. Einheitsstiftend ist also zunächst die Tatsache, dass man sich überhaupt mit Religion und Lebenssinnfragen auseinandersetzt und weiterhin der Umstand, dass dies in offener, nicht verpflichtender Weise geschieht. Inhaltlich enggeführt wird die Bezugnahme auf Religion allerdings durch die spezifische Symbolpolitik der Szene, die - grob gesprochen - oppositionell-gegenkulturelle Tendenzen vornehmlich in ästhetisch-stilistischer Art und
Weise zum Ausdruck bringt. So kann die eigentümliche Verquickung traditioneller, religiös aufgeladener Symbole (etwa das christliche Kreuz) bzw. Sinnfragmente epochaler Deutungssysteme (etwa die Betonung des subjektiven Gefühlserlebnisses der Romantik) mit tabuisierten und/oder gesellschaftlich verpönten und/oder angstbesetzten Sinnbereichen andererseits (etwa Pornographie/ Fetischismus/ Perversion, Tod, Satanismus/ Okkultismus/ Opferritualismus, als gefährlich und destruktiv geltende Kulte (etwa Voodoo, Hexenzauber und sonstige magisch-okkulte Praktiken naturreligiöser oder heidnischer Glaubensrichtungen) etc.) als das durchgehende Merkmal des Phänomens ,Gothic' begriffen werden. Kurz: Dass sich die Szene trotz ihrer betonten Offenheit und Wertschätzung der Individualität jedes Einzelnen als Einheit verstehen kann, ist sichergestellt durch die Spezifität ihrer Symbolpolitik, die Ausdruck der Aufeinanderbezogenheit von grundlegender Andersartigkeit und Tiefsinnigkeit ist. Entscheidend und hoch geschätzt in der Szene sind demzufolge nicht festgefügte, ,stimmige' oder quasi-dogmatische Deutungssysteme und Ideologien, sondern vielmehr konsistente und ,authentische' Lebenswege, die die intensive und zweifelnde Suche
eines Einzelnen jenseits des gesellschaftlichen ,Mainstreams' zu dokumentieren vermögen. Zu diesem Zweck werden i.w.S. religiöse Inhalte und Elemente verschiedener Glaubenssysteme in eklektizistischer Manier re-de-kombiniert; Resultat sind mehr oder weniger ideosynkratische Synkretismen und Religions-Bricolagen. Die schwarze Szene bewegt sich demzufolge in einer der Postmodernen zugeschriebenen Paradoxie, nämlich in einer ,Gemeinschaft von Individualisten'. Verschiedenheit als Einheitsprinzip zu etablieren, erzeugt das Problem, in der Verschiedenheit etwas Einheitsstiftendes zu erhalten, was jedoch die regulative Idee der Individualität wiederum nicht zerstört. Diese Aufgabe übernehmen inhaltlich nicht konkretisierbare Rahmensetzungen (einer der Interviewten formulierte: ,Oberflächlichkeit ist ein Tabu'), die jeweils individuell ausagiert werden (etwa über Selbstverwirklichungs- und -thematisierungsprozesse). Auf diese Weise ist ein einheitlicher Rahmen geschaffen, der über den Stil angezeigt wird und der einer je individuellen Füllung anheim gestellt ist.
Formen von Religiosität in der Gothic-Szene sind untrennbar verbunden mit einer umfassenden Ästhetisierung, stilistischen Überformung und popmusikalischem Ausdruck. Die Vordergründigkeit einer hoch spezialisierten und distinktiven Symbolpolitik bringt es mit sich, dass ,Gothic' also gerade keine ,unsichtbare' (i.S.v. beobachtbar), sondern eher eine höchst sichtbare, geradezu hyperpräsente (i.S.v. augenfällig, evident) Form von Religiosität etabliert. Dies bedeutet zunächst, dass eine Verlagerung von Inhalten (z.B. bestimmte Glaubenssätze und -lehren) auf die Oberfläche bzw. den Stil stattfindet: Als kollektiv einheitlich - und damit gemeinschaftsstiftend - erweist sich zunächst also nicht der spezifische Inhalt, sondern die Form bzw. der Stil, der prinzipiell damit als Super-Zeichen fungiert und darauf verweist, dass die Szene und ihre Mitglieder sich mit ,Inhalten' (verstanden als normative Kategorie) beschäftigen. Die Verschiebung der religiösen ,Botschaft' auf gegenkulturelle Objektivationen, kurz: auf den subkulturellen Stil der Szene erzeugt eine enorme Polysemie und damit einen Spielraum für mannigfache Phantasien und Identifikationen rund um das mehr oder weniger,düster konnotierte Transzendente'.
Schaut man sich die Szene und ihre Mitglieder heute an, so erscheint die typische schwarze Ästhetik als Abschreckung und Einladung zugleich: Kultisch-romantischen Stilen steht die Mehrheit der heutigen Jugendlichen eher ablehnend gegenüber; diese bevorzugt sportlich lässige Kleidung und gibt sich pragmatisch bis karrierebewusst (vgl. Zinnecker et al. 2002). Die demonstrative Zur-Schau-Stellung von Andersartigkeit, die Hyperpräsenz von religiösen, magischen und kultischen Verweisen und die damit aufgerufenen ,großen Transzendenzen' in der Gothic-Szene (er)scheinen wie eine sperrige Tür in eine andere, sakralisierte Welt, die die Szenemitglieder als stilisierte Figuren selbst mit Leben füllen. Welche stilistischen und ästhetischen Elemente hierbei eine Rolle spielen und zu welchen subszenespezifischen Formen sie verdichtet wurden, soll im Folgenden anhand fotografischen Bildmaterials betrachtet werden.
NO TEARS FOR THE CREATURES OF THE NIGHT.
GOTISCHE INSZENIERUNG DES MAGISCHEN
Die Szene der Schwarzen oder Gothic Punks entsteht in den 1980er Jahren. Sie überführt die düstere Seite des Punk in einen eigenen Lebensstil. Die Gothics vertreten einen retrospektiven Stil mit einer großer Bandbreite an musikalischen und modischen Formen: Sie beherbergen sowohl eine softe Hippiefraktion (im sog. Mittelalterbereich), daneben auch über den Neofolk eingeschleuste rechte Gothics aber auch Hardcore- (/Industrial-) und Metal- (Death und Black-)Anhänger. Die Gothics verkörpern einen sehr autarken Stil mit Schnittflächen zur Indie-, Punk-, Wave- und Metal Szene.
Seit Mitte der 90er Jahre findet eine Modernisierung des Gothic-Stiles statt - bspw. eine Anpassung an mediale Standards (Flyer, Events, Djs) und spezifische Körperpraktiken (Tattoos, Piercing) anderer jugendkultureller Szenen. Die Ausweitung der szeneinternen Infrastruktur bringt spezielle ,Schwarze Abende' in Clubs, eigene Festivals und Zeitschriften (u.a. Zillo, Orkus, Gothic) hervor. Die Gothics-Festivals der Gegenwart bieten, Techno-Events vergleichbar, mehrere Floors mit verschiedenen Musikrichtungen. Flyer werden zum Medium der Veranstaltungsankündigung und durch die digitalen Möglichkeiten entstehen neue ästhetische Verfahren, wie z.B. das des gotischen "Adbusting" (z.B. Goth Wars T-Shirt mit Star Wars-Typographie, siehe x-trax Katalog 2002).
Die Ausdifferenzierung und Ausdehnung der Szene (geschätzte Mitglieder: 80 000 - 100 000) ziehen auch Kommerzialisierung und Entsubstanzialisierung des Symbolischen nach sich: Die große Produktpalette des schwarzen Merchandising umfasst Kleidung (Läden Scarface, x-trax); Platten, CDs, Aufkleber, Bücher, Magische Symbole und Amulette, Runen, keltische Ornamente, Parfüm (z.B. Totenkopf-Patchouli) und Zimmerdeko (Totenköpfe). Es zeigt sich ein hochspezialisiertes, auf die Szene zugeschnittenes Angebot. Auf dem WGT (Wave Gothic Treffen) in Leipzig und dem Mera Luna-Festival in Hildesheim gibt es Gothic-Messen und Mittelalter-Märkte (MA Food Stände z.B. mit Met). Daneben existieren viele kleine Szeneunternehmen und die große Bedeutung des Versandhandels, jetzt Internet gestützt (www.x-tra-x.de), ist geblieben.
Besonders hervorzuheben sind die Locations: Burgen und Schlösser werden zu Veranstaltungsorten (z.B. Castle Rock Mülheim Ruhr 2002). Sie dienen als Kulisse und sind nicht länger nur imaginärer Fluchtraum. Vorher waren diese nur Bestandteil des symbolischen Kontexts und der Phantasiewelt. Die "Schwarzen" hegen seit den 80er Jahren den Wunsch, sich an aus dem normalen Alltag herausfallenden Orten, wie dem Friedhof und alten Ruinengemäuern, aufzuhalten, an Orten, die durch Stille, Einsamkeit, Düsternis und auch durch den Tod geprägt sind.
HEXEN UND RITTER AUF DEM ROLLFELD.
TYPOLOGIE DER SCHWARZEN BEKLEIDUNGDie schwarze Ästhetik ist allumfassend und gestaltet das gesamte Lebensumfeld der Schwarzen bis hin zur Kreation eigener öffentlicher Räume. Die Gothics sind kein Street Style mit öffentlicher Präsenz, die sonst relativ abgeschlossen agierende Szene zeigt sich in ihrer ganzen Vielfalt nur auf Festivals. Die außeralltägliche Kleidung ist weder "Confrontation Dress" noch bequeme Alltagskluft, Kleidungsschnitte und Materialien signalisieren die Feier der eigenen Ausnahmestellung. Schmuckmotive und Symbole stammen im wesentlichen aus drei eng miteinander verknüpften Bereichen: Tod und Vergänglichkeit des Körpers, Magie, Christentum und andere Religionen.
Schwarz ist seit den 80er Jahren die dominante Farbe in Kleidung und Accessoires. Schwarz ist in der westlichen Gesellschaft primär mit Alter, Tod, Verlust und Trauer verknüpft. Schwarz, das Negative an sich, die finstere Nacht und der Tod sind für die Gothics positiv besetzt. Die "Schwarzen", wie sie sich selbst nennen, nehmen auch die traditionelle Symbolisierung des Bösen, des Satans und seiner Dämonen damit auf. Schwarz, für die zeitlich begrenzte, rituelle Lebensphase der Trauer gedacht, ist bei den Gothics zeitlich, örtlich und situativ vom bestimmten Zweck entbunden und erfährt als entscheidendes Stilmerkmal eine Generalisierung auf alle Lebenssituationen. In Kontrast zu dem Schwarz tritt die silberne Farbe von Schmuck, Metallbeschlägen und -verzierungen, Nieten, Schnallen oder Handschellen.
Die Betrachtung des magisch aufgeladenen Alltags der Gothics konzentriert sich auf das Symboluniversum und die magischen Elemente in der Kleidung. In der Kleidung gilt es vier Kern-Typen zu unterscheiden:
TYP 1 HISTORISCHE RETROFIGUR
In den 80er Jahren bezieht sich die Szene nur in ihren Bildwelten auf das Mittelalter (eigentlich auf das Gotik-Bild der Romantik, siehe Richard 1995). In der Gegenwart werden die ,mittelalterlichen' Locations zur konsequenten Umrahmung einer spezifischen Kleidung.
Der abgebildete Ritter, ein Mann mittleren Alters, ist mit einem mehrschichtigen Kostüm bekleidet. Es besteht aus einem Umhang mit Leopardenmuster, einem schwarzer Lederrock und einer den Oberkörper bedeckenden Lederpelerine und einem zweifach breiten, braunen Leibgurt aus braunem Leder, an dem verschiedene Taschen hängen. Vor dem Körper trägt er eine Art Geldbeutel. Sehr prägnant ist seine Kopfbedeckung, eine Kettenmütze, wie sie die mittelalterlichen Turnierritter unter dem Helm trugen. Zeitgenössische Elemente sind schwarze Motorradboots, beide Unterarme sind mit breiten Nietenstulpen bedeckt, wie bei einer mittelalterlichen Panzerung, das Accessoire stammt aus dem Metal Bereich. Er ist ein Pseudo-Ritter ohne Pferd, die Diskrepanz zwischen historischer Inszenierung und der Umgebung eines ehemaligen Flughafengeländes mit Igluzelten im Hintergrund, verstärkt durch die Colaflasche und den blauen Müllsack in seiner Hand, wird deutlich.
Der Ritter repräsentiert ein potentielles Angebot aus der Palette des Historischen. Zu diesem schwarzen Typus zählen alle vergangenheitsbezogenen Ästhetiken vom Mittelalter über Renaissance, Barock, Rokoko bis hin zur Romantik. Das Interessante ist, dass die romantische Phantasie des Mittelalters, nun in die Kleidung Einzug hält, also konkret, materiell wird. Die Kostüme sind sorgfältig zusammengestellt und sehr gepflegt. Die Ästhetik des Mittelalters prägt sich in Figuren wie Minnesänger, Musiker, Adelige und Burgfräulein, Ritter, Handwerker, Räuber, Händler und Gaukler aus. Hier findet eine scheinbare Repräsentation der unterschiedlichen Stände des Mittelalters statt. Die authentische Rekonstruktion steht nicht im Mittelpunkt, zu den historischen Kostümen tritt z.B. oft die typische Art des schwarzen Schminkens. Anders als bei jugendlichen Retrokulturen der Gegenwart, wie den Mods oder wie bei Rollenspiel-Gruppen, die historische Situationen nachstellen und auf eine ,authentische' Gewandung (im Gegensatz zum Kostüm) Wert legen, geht es der Szene um die Erzeugung einer bestimmten Atmosphäre, die die punktuelle theatralische Inszenierung des Selbst vor historischer Kulisse möglich macht. Außerhalb der historisch durchgestylten Locations, etwa auf dem Mera Luna-Festival, dem alten Flughafengelände oder in Mehrzweckhallen, wird die theatralische Kostümierung zum unmittelbaren Ausdruck von Fremdheitserfahrung gegenüber der normalen Welt.
TYP 2: KINDER DER NACHT
Hier werden Figuren wie Hexen, Magier und zwischenweltliche Wesen wie Vampire zum Leben erweckt. Diese Phantasiewelten entstammen Literatur und Kunst der (schwarzen) Romantik, insbesondere wären hier Lord Byron, Mary W. Shelley, Horace Walpole oder H.G. Lewis zu nennen.
Die drei abgebildeten hexenartig gestylten Frauen sind extrem bleich geschminkt, mit schwarzen oder blassen Lippen und stark Kajal umrandeten Augen. Sie tragen wallende lange Kleider oder Röcke, die bis zum Boden reichen und die Schuhe (DocMartens) bedecken. Als Accessoires treten Fächer aus Spitze und ein Sonnenschirm mit angenähter Spitze auf. Bleichheit und Schutz vor Sonne werden in Anknüpfung an adelige Distinktionsmerkmale zelebriert. Die Stilisierung zu Nachtwesen, die den hellen Tag und den Sonnenschein meiden, passt in das romantische Bild der Nacht.
Die Hände sind mit Spitzenhandschuhen oder mit bis an die Fingerspitzen reichenden Oberteilen und schwarzen Fingernägeln gestaltet. Schmuck sind Pentagramm, Kreuz, Ringe mit Fledermaus, dezente Nietenaccessoires und Samthalsbänder. Eine der Frauen trägt ein transparentes Spinnennetzoberteil. Die Spinne ist ein beliebtes Schmuckmotiv, aufgrund ihres Ursprungs als giftiges Teufelstier. In der Vorstellung des Altertums entspringt die Spinne dem Blut der Gorgonen. (vgl. Bächthold- Stäubli/ Krayer 1927 und Lurker 1988). Ein anderes Symboltier, die Fledermaus ist mit den Mächten des Bösen und dem Vampirmythos verbunden. Todbringende Gestalten und der Teufel werden oft mit Fledermausflügeln dargestellt. Neben den benannten Tieren haben die Gothics einen ganzen Zoo auserkoren: Fliege, Eidechse, Rabe, Käfer, Kröte und die Eule, die in der christlichen Ikonographie für das Böse, den Satan und seine Helfer Hexe und Magier stehen.
Das häufigste Schmuckmotiv ist immer noch unangefochten das Kreuz in unterschiedlichen kulturellen Varianten (z.B. das keltische Kreuz). Das Kreuz ist Schutzamulett gegen das Böse und Todessymbol, es steht für Leid und Vergänglichkeit. Das umgedrehte Kreuz ist kulturhistorisch Zeichen für Satanismus, der die Symbole und Rituale des Christentums in ihr Gegenteil verkehrt. Es dient vor allem der Provokation. Daneben treten Accessoires wie Davidstern, Ankh (ägyptisches Zeichen) Pentagramm oder Drudenfuss und keltischer Knoten. Die religiös-magische Bricolage besteht nicht in einer radikalen Umkodierung christlicher Zeichen, sondern in der Konstruktion des Zusammenspiels mit anderen Zeichen.
Da die Gothics alles fasziniert, was mit dem Tod zusammenhängt, sind folglich Totenschädel, Skelette und Knochen andere beliebte Schmuckmotive. Hier knüpfen sie an eine Tradition des 17. Jahrhunderts an, wo die makabren Bilder in den häuslichen Bereich Einzug halten (Aries 1987, S. 419, 422). Die drei schwarzen Frauen nehmen den Begriff des Totentanzes wörtlich. Sie sind ein lebendiges und naturalistisches memento mori, das die altersbedingte Metamorphose des Körpers vorwegnimmt. Auf ihren kalkweißen Teint sind Gebilde wie Spinnennetze gezeichnet. Diese ,tote' Schminkweise, das ,Totmalen' oder ,Totrumlaufen', wie die Gothics es nennen, ergibt das Gesamtbild eines lebenden Toten oder eines Vampirs, was durch dunkle Augenhöhlen und nachgemalte Äderchen unterstützt wird. Besonders extrem sind die Teilung des Gesichts durch einen zackigen Strich und die verzerrten Lippen bei einer der Frauen. Sie verwandelt sich in die unheimliche Gestalt eines unerlösten leidenden Zwischenwesens. Die anderen beiden stilisieren sich zu ,schönen' Todesengeln im Stile der "Gothic Novels", der Schauerromane der Romantik, mit bleichem Körper, der schwarz (s. Luries Begriff "dramatisches Schwarz" 1981, 169) umrahmt wird.
TYP 3: DARK WAVE
Dieser Typus ist hauptsächlich durch die Farbe Schwarz und die Materialien Leder und Lack bestimmt. In diese Kategorie fallen die Anhänger der elektronischen Musiksubstile, Waver und EBM (Electronic Body Music) Fans mit ihren Band T-Shirts. Beide abgebildeten Männer lassen einen Minimalismus in der schwarzen Kleidung erkennen. Sie ist nüchtern, bis auf die Nietenarmbänder schmucklos. In ihrem risikolosen Stil greifen sie die Klassiker der Szene aus den 80er Jahren auf, wie seitlich geschnürte Lederhose und DocMartens. Beide tragen die typische Waverfrisur mit kahlrasierten Seiten und breitem, schwarzgefärbtem Kamm mit relativ kurzem Deckhaar. Nur die Sonnenbrille als Rekurs auf den modernen Dracula aus Coppolas Film "Bram Stokers Dracula" ist erwähnenswert. Sonst ist dieser Typus ästhetisch wenig innovativ und hat kaum Bezug zu magischen Welten.
TYP 4: CYBERPUNK
Zu dieser Gruppe gehört eine Vielfalt von Erscheinungen, von Industrial Fans über die SM-Anhänger (seit den 1980ern von "Die Form" initiiert) bis hin zu Zukunft im Cyberpunk. Modische Kennzeichen sind Schnallen wie in den 80ern, hinzu kommen Materialien wie Schläuche, Plastik, Gummiplatten in Anknüpfung an SF-Comics (Interview Monaco, Besitzer des Szeneladen X-trax). Das abgebildete Paar trägt schwarze Kleidung. Lederhose und eine Schweißerbrille sind weitere Gemeinsamkeiten. Die Frau trägt die Brille auf dem Kopf als Haarschmuck, der Mann hat seine Brille mit rötlichen Gläsern an die Weste gehängt. Das Outfit des Mannes wirkt durch das Barett und die schwarzen Handschuhe militärisch. Er trägt eine Weste mit Schnallen und sehr vielen Taschen (vgl. Fotografen, Kameramann Weste). Damit knüpft er an einen zeitgemäßen Future-and-Utility-Look (Richard 2001) an. Die Frau trägt über einem schwarzen Oberteil und einer schwarzen Hose ein Ensemble aus grüner Fallschirmseide. Von einer breiten Schärpe sind an zwei kleinen Karabinerhaken abtrennbare Beinteile aufgehängt, die die Kniepartie freilassen. Beide präsentieren sich als Agenten aus der Zukunft mit technoidem Outfit, technische Funktionalität suggerierend. Die Verspieltheit der Accessoires zeigt, dass hier ein magisches Bild des Technoiden erzeugt wird.
MAGISCHE ZEITREISEN IM CROSSOVER
Alle oben beschriebenen Typen existieren nicht nur in Reinform, sondern in den verschiedensten Crossover-Formen. Besonders deutlich wird dies in dem Vampir Mädchen, die verschiedenste Accessoires aus den vorgestellten Typen kombiniert. "Naughty Angel" ist die Aufschrift auf ihrem durchsichtigen Oberteil, das den Blick auf ihre gepiercten Brüste freigibt. Sie trägt eine schwarze Lackhose und einen romantischen Ausgehrock, kombiniert mit einer Federboa und Pyramidennietengürteln. Ihre blutroten Fingernägel sind neben den Lippen der einzige Farbklecks. Der kahlrasierte Kopf ist mit einer Art weißem Diadem mit weißem Kreuzanhänger umschnürt. Ihr Blick erinnert durch ausgefallene Kontaktlinsen an einen Vampir; dieser Ausdruck wird durch weiße und schwarze Striche unter den Augen und am Mund unterstützt.
Die Inszenierung in den verschiedenen Typen führt bei den Gothics zu einer mehrstufigen magischen Zeitreise vom Mittelalter bis in die Zukunft. Die ersten beiden sind historisch orientiert, hier werden die meisten magischen Symbole getragen, am konzentriertesten bei den Kindern der Nacht. Die Dark Waver zeigen sich gegenwartsverhaftet und die Cyberpunks zukunftsorientiert.
Der Körper ist bei allen Typen wie in den 80er Jahren nicht primär sexuell besetzt, sondern Gestaltungsmittel für die Inszenierung als Lebenskunstwerk. Die heterosexuell geprägten Körperbilder der Szene reproduzieren Geschlechterstereotypen wie z.B. Frauen als Prinzessinnen, (siehe Klischees im Katalog von x-trax, auch www.x-tra-x.de), erlauben aber auch Strategien wie Cross-Dressing, die vor allem von den Männern ausprobiert werden. Androgynität ist jedoch in beide Richtungen möglich. Die historisch orientierten Typen zeigen eine sehr distanzierte Haltung zum eigenen Körper wie sich an Umhängen, Überwürfen, Schals, Draculacapes, Mönchskutten und Priestergewändern belegen lässt. Auch bei Typ 4, der SM als Bild inszeniert, ist trotz partieller Entblößung keine offensive Körperlichkeit spürbar. SM passt gut in das Programm der Schwarzen, weil es eine Form von reguliertem Rollenspiel ist und sich gut für dramatische Posen (wie den Partner am Halsband führen) eignet. Es entspricht wiederum dem elitären Gestus der Szene auch im Bereich der Sexualität ein Bild ihres Spezialwissens über deren dunklen Seiten zu erzeugen. Das Spiel von Dominanz und Unterwerfung ist in der Struktur des schwarzen Stils angelegt, da auch die magischen Rituale Prozesse sind, in denen Macht über andere ausgeübt werden soll.
Im Unterschied zu anderen jugendkulturellen Stilen wie Heavy Metal, die sich auch mit magischen Symbolen umgeben, findet bei den Gothics ein sehr differenzierter Umgang mit den Verbildlichungen der Magie statt, die nicht nur der Provokation dienen. Die magischen und okkulten Praxen sind deshalb attraktiv, weil sie mit einer anderen Zeit und Zivilisationsstufe verbunden sind, die Vergangenheit enthält das uneinlösbare Versprechen zwischenmenschlicher Harmonie und Wärme.
Ihre magisch-theatralische Inszenierung ist eine Transzendierung des Alltäglichen, die auf der Erzeugung von Bildern und Tableaus beruht. Über die Kleidung und somit den Körper wird ein magisches Element als Störfaktor in den rational durchorganisierten Alltag implementiert. Die magische Aufladung des Alltags entspringt dem elitären Bewusstsein, mit dem Geheimwissen über Tod und Magie einen Einblick in die dunklen Seiten des Lebens zu haben, den man anderen voraus hat. Seit den 1980er Jahren halten sich die Gothics für eine Elite, die als einzige gegen die soziale Verdrängung des Todes arbeitet und unerfüllte Liebe, Schmerz, Einsamkeit und Tod akzeptiert und nicht nur - wie eben in ihren Augen alle Nicht-Schwarzen - das Schöne und Bunte im Auge hat. Die schwarzen Gegenwelten - historisch, magisch (märchenhaft) und technoid -, sind in ihren unterschiedlichen Modellen bis ins Detail ausgestaltet. Die magische Oberflächenästhetik bildet eine hermetische Grenze, die in einem Spannungsverhältnis zur postulierten gotischen tiefgehenden Nachdenklichkeit steht.
Dieser Beitrag basiert auf einer diachron und synchron angelegten ethnographischen Untersuchung der Gothics-Szene zur Zeit der 1980er Jahre und der gegenwärtigen Situation in den alten und neuen Bundesländern (finanziell gefördert vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V., Freiburg i.Br.). Fotos und Untersuchungsergebnisse zur heutigen Szene stammen von Neumann-Braun/ Schmidt (2002), die zur Szene der 1980er Jahre von Richard (1995).
Literatur:
Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max (1985): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M.
Aries, Philippe (3/ 1987): Geschichte des Todes. München
Bächthold-Stäubli, Hanns/ Hoffmann-Krayer, E. (Hg.) (1927): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 1. Berlin/ Leipzig 1927
Durkheim, Emile (1981): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M
Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M
Luckmann, Thomas (1991): Die unsichtbare Religion. Frankfurt/M
Lurker, Manfred (1988): Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart
Lurie, Alison (1981): The Language of Clothes. New York
Mauss, Marcel (1989): Soziologie und Anthropologie 1. Frankfurt/M
Neumann-Braun, Klaus/ Schmidt, Axel (2002): Die Gothic-Welt - Spielräume düster konnotierter Transzendenz. Paper 44 des Instituts für Soziologie der Universität Koblenz-Landau/ Campus Landau
Richard, Birgit (1995): Todesbilder Kunst Subkultur Medien. München
Richard, Birgit (1997): Schwarze Netze - eine klassische Subkultur mit medialen Extensionen, die Gruftie bzw. Gothic Punk Szene (S. 129-140). In: Eric Meyer u.a. (Hg.): Kursbuch Jugendkultur. Mannheim
Richard, Birgit (2001): Odyssee in Fashion 2001: Electro-Textiles und Cargo Mode (S. 62-69). In: Aigner, Carl/ Marchsteiner, Ulrich (Hg.): Vergangene Zukunft. (Ausstellung Kunsthalle Krems). Krems
Weber, Max (1991): Die protestantische Ethik. Gütersloh
Zinnecker, Jürgen et al. (2002): null zoff & voll busy. Opladen
O-Töne zwischen Himmel und Hölle
NICHTS VOR WAS MAN ANGST HABEN MÜSSTEDie Gothics "haben einen starken Bezug zur Geschichte und zur Kunst jeglicher Form, zur Ästhetik und zu allen schöngeistigen Dingen der Menschheit. Welcher normalsterbliche Mensch begeht noch einen Spaziergang um des Spaziergangswillen. In der Szene ist das Usus, ist das üblich. Oder Romantik, oder Gespräche. Wenn man mal die Kontaktanzeigen liest von jungen Grufties, dann steht dort meistens: wer Spaß hat an langen Gesprächen bei Wein und Kerzenschein. Das ist eine Zeile, die taucht tausendfach auf, jeden Monat. Das sind Menschen, die sich mitteilen wollen, die suchen wollen, die fühlen wollen, die wirklich leben wollen. Nichts vor was man Angst haben müsste."
DER TOD IST GROSS
"Man kann nicht bei allen Szenegängern von einer ähnlichen Einstellung sprechen. Ich beispielsweise bin überzeugt, dass mit dem Tod wirklich alles zu Ende ist, es gibt unter den Schwarzen aber sehr viele, die da noch irgendwelche schwärmerischen oder mystischen Vorstellungen haben, sicher mehr also solche wie mich. Das sind wirklich sehr verschiedene Einstellungen. Aber was grundsätzlich ist, ist eine gewisse Neugier, darüber zu sprechen; also es ist überhaupt nicht überraschend oder herausragend, dass mich auch im Nachtleben jemand mal angesprochen hat, um sich mit mir über das Sterben zu unterhalten. (...) Ich erinnere mich, wie entsetzt meine Eltern waren, als ich auf dem Friedhof mal ein Rilke-Gedicht aufgesagt hab, wir hatten uns unterhalten, wir waren am Grab ihrer Eltern, und es schien mir naheliegend, es passte einfach dorthin: ,Der Tod ist groß, wir sind die seinen, wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen, der Tod ist groß, wir sind die seinen, lachenden Munds, ja, wagt er zu weinen mitten in uns.' Und mein Vater schwieg plötzlich, und meine Mutter wurde plötzlich beredt, als hätte ich irgendwie Selbstmordabsichten angedeutet, es passte überhaupt nicht, sie waren eher erschrocken, wehrten eher ab. Und das ist eine normale Reaktion außerhalb der schwarzen Szene, innerhalb aber gar nicht. Ich würde also nicht von konkreten Einstellungen sprechen, die sich gleichen, sondern von Neigungen und von einer Bereitschaft, von einer gewissen Offenheit solchen Fragen gegenüber."
DIE SUCHE NACH SINN
Was ist das Gemeinsame der Szene? "Was bestimmte politische, ethische Sachen angeht, so ist es kein Faschismus, kein Okkultismus, kein Satanismus. Da sind keine allgemein gültigen Meinungsbilder in dieser Szene. Was eine durch die Reihen gehende allgemeine Tatsache ist, dass man versucht etwas zu finden, was zwischen Himmel und Erde ist und das sich nicht durch Berührung, Sehen oder durch ähnliche wissenschaftliche forensische Methoden beweisen lässt. Die suchen alle nach was anderem. Da muss doch noch irgendetwas sein. Diese Fragestellung ist sicherlich allgemein gültig. Die sind nicht zufrieden damit, dass es schwarz-weiß gibt, oben und unten und Himmel und Erde, sondern die sagen, da muss noch irgendetwas sein. Irgendetwas fehlt hier in der Erklärung. Diese Frage, diese Suche nach dem Sinn ist bestimmt allgemein gültig. Wer in der schwarzen Szene sich bewegt und das nicht nur mode-halber macht, der sucht nach einem Sinn, nach irgendetwas besonderem im Leben."
EIN STÜCKCHEN MEHR ZU ENTDECKEN
Zum Satanismus und seiner Faszinationswirkung: "Ich sage nein. Es ist nun mal dadurch, dass das Klischee ist, gibt es immer Leute, die sagen, ,Mensch die Szene ist so groß' und so fassbar durch Medien, durch Orkus oder so ist das fassbar, man macht dann einen Markt da draus. Und der, der ein Buch schreiben will, der sagt das, was die Szene nicht braucht. (...) Es wird da immer was ganz einfach dumpf bedient, ohne das die Leute so sind und ohne dass die Leute, die das vertreiben unbedingt ganz reine Satanisten sind. (...) Die kriegen das irgendwo mal mit und versuchen sich mal im Gläser rücken oder so. Und beschäftigen sich mit der Kraft der Magie und stellen dann aber irgendwie fest, (...) dass so etwas mehr oder weniger existiert, und dass man einiges damit bewegen kann, aber dass die Leute auch immer ein Stückchen eigene Kraft und Lebensenergie dafür hergeben müssen. Und da denke ich mal, lassen einige deshalb die Finger davon und einige gehen nur so weit. Ich denke, die meisten haben da noch nichts gemacht und einfache Dinge, wie was zu erpendeln oder zu erfragen, das denke ich ist so ein normales Bedürfnis nicht von den normal umgebenden Gesetzen nicht nur unbefriedigt zu sein. Sondern einfach dort ein Stückchen mehr zu entdecken und ein größeres Bewusstsein oder so zu erreichen."
Quelle: Kunstforum International. Herausgegeben von Birgit Richard und Sven Drühl in "Das Magische II - Zur Repräsentation okkulter Phänomene und Emanationen des Bösen". Bd 164, 2003.