Exkurs Mangas
Die Freizeit- und Unterhaltungsaktivitäten eines jeden
Landes spiegeln die technologischen Bedingungen der Zeit wieder, in
der sie sich entwickelt haben. Im Falle Japans ist es daher
natürlich, dass elektronische Formen der Unterhaltung
(...) die Führung übernommen haben.1
Japans Ministerpräsident Miyazawa
gab für die 90er Jahre das Motto Lifestyle Superpower
aus: Hier verschmelzen Design und Werbung mit hochspezialisierter
Informationsgesellschaft und bringen mediale Kulturprodukte wie
virtuelle Idole und Videogames hervor, die wiederum in engem Bezug
zu Manga-Comics und Animes (japanischen Animationsfilmen) stehen.In
einer Businesskultur wie der japanischen, in der individueller
Ausdruck, Risikobereitschaft, Verspieltheit und Exzentrik verpönt
sind, nehmen die `Creators´ einen besonderen Freiraum für
sich in Anspruch. In den 70ern waren solche medialen Stars vor allem
Mode- und Grafik-Designer. In den Achtzigern waren es die
Werbetexter und Event-Planer. In den Neunzigern stehen die
Game-Designer und Anime-ka im Rampenlicht.2
Virtuelles Idol und Game
In den 90er Jahren stellte die japanische Unterhaltungsindustrie fest, dass
fiktive Spiele-Figuren einen höheren Wiedererkennungswert
besaßen als menschliche Darsteller, und Fernsehstationen wie
Fuji TV versuchten mit computeranimierten Charakteren die
Aufmerksamkeit zu erringen. Japanische virtuelle Idole sind
vorwiegend junge Sängerinnen mit hübschem Gesicht, die zu
Talent-Singers (der Einfluss von Karaoke ist unübersehbar)
werden. Die virtuelle Idole-Agentur Hori Pro kreierte mittels Motion
Capture3
die Figur Kyoko Date, eine 16jährige Popsängerin, die
tanzt, singt und Interviews gibt, in denen die eigens für sie
entwickelte Biographie zur Geltung kommen kann. Details zu sozialem
Background und persönlicher Lebensgeschichte spielen eine große
Rolle bei japanischen Figuren, was auch in japanischen Videogames
absolute Beachtung findet. Als kulturspezifischer Unterschied zu
amerikanischen Games, die auf größtmöglichen
Realismus und Immersion drängen, zwingen japanische Videospiele
ihren Spielern kein Eintauchen in die virtuelle Welt auf, sondern
legen vielmehr Wert auf eine emotionale Beziehung zwischen Spieler
und Figur, auf ein empathisches Beteiligtsein.4
Dennoch ging die Rechnung im Falle von Kyoko Date nicht auf: sie
wurde vom japanischen Fanmarkt nicht angenommen. Volker Grassmuck
führt für das Scheitern Dates zwei Gründe an: Zum
einen sei sie zu perfekt und zugleich als überzeugender
Menschenersatz nicht perfekt genug - hier klingt die misslungene
Spannung zwischen Artifizellem und High Tech an. Zum anderen tun
sich Japaner mit dreidimensionalen Figuren schwer, da ihre
Sehgewohnheiten an einer zweidimensionalen, flachen,
nicht-perspektivischen Bildsyntax geschult sind. Dies umfasst
das Lob des Schattens, das ungleich dem realistischen
Schattenwurf in der Renaissance-Perspektive eine schattenlose
Figurendarstellung meint und dem Schatten als solchen die aktive
Rolle als Figur und als Bild zugesteht.
Manga und Anime
Die kulturelle Lesart, zweidimensionale Bildwelten für wirklicher und natürlicher
zu empfinden als dreidimensionale, zeigt sich vor allem auch in der
großen Beliebtheit von japanischen Mangas. Mangas sind
wöchentlich, in Millionenauflage erscheinende Comic-Magazine,
die eine Bandbreite von Alltagsgeschichten über Familiendramen
bis hin zu Horror-Stories und zu Pornographie besitzen. Ihren
Ursprung haben Mangas in unterschiedlichen japanischen Bilderrollen,
die den Alltag mit Humor und Karrikatur schildern. Unzählige
Details unterteilen den Bildraum in zersplitterte Kombinationen von
Bildern und Schriftzeichen.
Was
den Leser auf seiner Reise durch ein manga mitreißt,
ist die Folge unverbundener Szenen und Eindrücke mit Sprüngen
in Abstufung und Dichte, vergleichbar mit den Visionssequenzen, die
man in einem bewusstseinserweiternden Rauschzustand erfährt.
Ihre visuelle Logik ähnelt der japanischer Fernsehwerbung und
Musikvideos und sogar der des traditionellen japanischen
Spaziergartens mit seinem Rundweg, der Neugier und Entdeckungsfreude
stimulieren und befriedigen soll.5
Die weiblichen Figuren in Mangas sind charakterisiert durch eine
schlanke, große Gestalt mit langen Beinen, großen runden
Augen und einer Stupsnase. Manchmal gleichen sie westlichen
Manequins, vor allem wenn sie mitunter nordeuropäische
Gesichtszüge und blonde Haare besitzen. Diese modische
Maskerade bedient sich einer alten Projektions-Strategie: Ebenso
wie die traditionellen no-Masken die Wirklichkeit verwandeln,
kann auch die manga-Maske ein Bild verändern oder ein
Ideal beschreiben.6
Den Frauenfiguren in Mangas widerfährt tiefe Bewunderung ebenso
wie, in weit häufigeren Fällen, gewaltsame Unterwerfung,
beides spiegelt die altbekannten männlichen Phantasiebilder des
Heilige-Hure-Musters. In Mangas herrschen SM, Bondage und Gewalt,
und in Verbindung mit dem kindlich unschuldigen Aussehen der
weiblichen Figuren hat sich in Porno-Mangas der Begriff der Rorikon
geprägt, der die sexuelle Vorliebe für Teenager-Mädchen
und damit den Lolita-Komplex meint. Grassmuck weist jedoch darauf
hin, dass für die männlichen Leser der Sex der
Comic-Figuren nichts Physisches, sondern etwas Mediales sei, und
verweist auf das westliche Pendant des Helden aus Steven Soderberghs
Film Sex, Lies and Videotapes, der zweidimensionalen
Beobachter-Sex viel sicherer und damit erstrebenswerter findet.7
Die massenkulturelle Beliebtheit von
Mangas geht mit einer riesigen Spin-Off-Industrie einher: TV,
Werbung, Telekommunikation, Games und Animes greifen Mangas auf bzw.
kommunizieren mittels Mangas, die wiederum vice versa funktionieren.
Im Anime ALITA von 1996 gibt es die gleichnamige,
knabenhaft-kindliche Heldin, die die Welt vor dem drohenden Bösen
retten und wieder ins Gleichgewicht bringen will. Ihre Besonderheit
ist ihre Entstehung als Cyborg-Kreatur, als Robot-Wesen mit enormen
Kräften und menschlichen Gefühlen. So gewinnt sie mutig
und schlau diverse Kämpfe mit monströsen technischen
Kampfmaschinen, kann aber letztendlich ihren männlichen
Weggefährten nicht retten, von dem sie sich in tiefer
emotionaler Verbundenheit trennt. Wie schon bei japanischen Games
verbindet sich das Artifizielle mit der Empathie zwischen Personen,
ohne in die Beziehung eintauchen zu müssen. Als
weiblicher Cyborg ist Alita im weiten Maße den Naturgesetzen
enthoben und wird im Anime-Genre zu einer Mischung von mechanical
gadget und animistischer Tradition, sich Unbelebtes als belebt
vorzustellen.
Startseite